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LONGEVITY – WAS FINTECHS MIT EINEM LANGEN LEBEN ZU TUN HABEN


MÄRZ 2023

Wie klassische Bankprodukte und deren Präsentation in einer älter werdenden Gesellschaft funktionieren können.

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TITELSTORY

NOT OK, BOOMER


Wenn Menschen länger auf dieser Erde sind, dann sollen sie auch länger eine hohe Lebensqualität haben, sagt die Longevity-Bewegung. Welche Rolle spielen Fintechs für die längere Lebensdauer und wie können Banken ihre Versäumnisse aufholen?



Wir werden immer älter: Laut Prognose des Statistischen Bundesamtes könnte die durchschnittliche Lebenserwartung im Jahr 2060 für Männer auf 84,8 und für Frauen auf 88,8 Jahre ansteigen. Zum Vergleich: Aktuell liegt sie bei 78,5 bzw. 83,4 Jahren. Longevity ist der trendige Begriff für diese steigende Lebensdauer und Longevity-Techs sind die Unternehmen, die ihren Beitrag dazu leisten wollen, diese lange Lebenszeit weiter zu verlängern oder zumindest zu verbessern.

Da geht es genauso um die App, die Menschen in Bewegung halten soll, den Pflegeroboter, der mit den Menschen in Pflegeheimen interagiert, oder um neueste Biotech-Erfindungen. Aber zu einem langen Leben gehört eben auch, dass man sich das Altern leisten können muss. Innerhalb der Longevity-Bewegung spricht man dann von Longevity-Fintech, ein zugegebenermaßen noch sehr kleiner Markt. In Deutschland gibt es sehr wenige Startups, die dazu gezählt werden können, darunter die Neobank Brygge.

Cornelia Schwertner ist eine der Gründerinnen dieses Hamburger Fintechs, das seine App die „smarte Lesebrille beim Banking“ nennt. Einfach, weil man ab einem bestimmten Alter halt etwas mehr Unterstützung braucht – und ihr Unternehmen will sie bieten. Ihre Zielgruppe nennen sie bei Brygge „Menschen in der zweiten Hälfte ihres Lebens“. „Bei diesen Menschen geht es nicht mehr um den langfristigen Vermögensaufbau“, erzählt uns Cornelia im Gespräch.

„Es geht eher darum, wie man Vermögen sinnvoll wieder abbaut, wenn es da ist. Sonst geht es eher darum, wie man bis zum Monatsende durchhält.”
CORNELIA SCHWERTNER<br />
Co-Gründerin von Brygge CORNELIA SCHWERTNER
Co-Gründerin von Brygge

Diesen Menschen bieten die Macherinnen von Brygge nicht etwa ein neues Konto, sondern eine auf Open Banking basierende App, in der ein vorhandenes Konto – zum Beispiel von einer Sparkasse – eingebunden wird. Sicherlich eine gute Entscheidung, schließlich sinkt statistisch gesehen mit dem Alter die Wahrscheinlichkeit, dass jemand sein Girokonto wechselt.

Auf der Brygge-Website ist zu lesen, dass 70 Prozent der Menschen ab 60 Jahren noch nicht den Schritt ins Online-Banking gegangen sind. Angesichts des drastischen Filialsterbens der vergangenen Jahre bedeutet das für die Zielgruppe auf kurz oder lang ein Problem.

HIP, ABER ALTERSDISKRIMINIEREND


Es ist schon erstaunlich, dass sich Banken genau wie Fintechs dieser Zielgruppe nicht besser annehmen.



Applause, ein US-Unternehmen, das sich auf App-Tests spezialisiert hat, hat 2022 weltweite Banking-Apps auf Herz und Nieren geprüft. Eines der Ergebnisse: Nicht alle Kund:innen können die Apps und Online-Auftritte von Banken gleich gut nutzen. Die Finanzbranche baut immer fortschrittlichere Angebote, die jedoch selten richtig barrierefrei sind.

Dabei spricht Applause den Finanzunternehmen nicht das Bewusstsein dafür ab. Jedoch würde der ständige Innovationsdruck schnell dazu führen, dass Details übergangen werden, die nur einen kleinen Kundenkreis betreffen, etwa Menschen mit Sehbeeinträchtigung, die auf Bildschirmleser angewiesen sind. Wenn dann im Backend nicht alle interaktiven Elemente sinnvoll benannt seien, könne eine Nutzerin nicht mehr erkennen, was sie nun machen müsse, um in der App fortzufahren.

Dazu kommen Anglizismen und experimentelle Designs, bemängelt die Expertin Agnieszka Walorska. Seit Jahren beschäftigt sich die Berliner Unternehmerin (Panq) mit Fragestellungen rund um IT und digitale Ethik. Unter anderem hat sie Fintech-Lösungen auf ihre Tauglichkeit für eine ältere Nutzerschaft untersucht. „Viele sind es gewohnt, ihre Kontoauszüge in Ordnern abzuheften“, sagt sie über die Zielgruppe. „Solche Gewohnheiten legt man gerade in dem Alter noch schwieriger ab, als als junger Mensch.“ Das bedeute jedoch nicht, dass diese Menschen nicht bereit seien, zum Beispiel Online-Transaktionen zu tätigen. Nur kämen sie eben bei dem Tempo der technologischen Weiterentwicklung nicht mehr mit.

TOP-KUNDENGRUPPE WIRD IGNORIERT


Es ist schon erstaunlich, dass sich Banken genau wie Fintechs dieser Zielgruppe nicht besser annehmen. „Longevity“ setzt sich als Trendbegriff dafür gerade erst durch, doch das Thema ist altbekannt. Dass wir älter werden, ist keine Überraschung – und wird sich vor allem auch nicht ändern. Auch die Generationen Zett, Alpha und irgendwann Beta werden aus all den für die Jüngeren konzipierten Produkten herauswachsen.

Dennoch ist Brygge in Deutschland das bisher einzige Fintech in diesem Bereich. Finanziert werden soll das Unternehmen durch ein solidarisches, nach dem Vermögenslevel abgestuftes Bezahlmodell: Die vermögende Kundschaft soll ein Stück weit auffangen, was die weniger gut Betuchten nicht zahlen
können. „Das Ziel ist eine Gemeinschaft, die sich selbst trägt“, erklärt Cornelia. „Wir glauben daran, dass die Menschen erkennen werden, dass es künftig solche solidarischen Geschäftsmodelle braucht.“

Klar ist, dass die Zielgruppe enorm heterogen ist: Ein durchschnittlicher Neurentner hat andere Ziele und Pläne als die betagte Kundin, die bereits seit drei Jahrzehnten ihre Pension genießt. Allen gemein ist derzeit aber, dass sie keine Digital Natives sind, dass sie also in einer analogen Welt aufgewachsen sind und die allgegenwärtige Digitalisierung erst zu einem Zeitpunkt für ihr Leben relevant wurde, als man diese nicht mehr ganz so leicht lernen konnte. Viele begegnen der Technik mit Skepsis, anderen fehlt es einfach an der nötigen Medienkompetenz. Dazu steigt mit dem Alter der Kundschaft statistisch die Wahrscheinlichkeit, dass sich körperliche Gesundheit, Fitness im Umgang mit digitalen Medien und auch finanzielle Bedürfnisse von denen der jüngeren Kundschaft unterscheiden. Aspekte wie Betrugsprävention werden auf einmal wichtiger und gehören wenig verwunderlich auch zu den Versprechen von Brygge.

ANGEBOTE, DIE KEIN ALTER HABEN


Longevity ist eine Entwicklung, der sich kein Finanzinstitut entziehen kann. Zumal selbst die hyperdigitalen, mobilen Nachwuchs-Generationen von heute irgendwann da sein werden, wo 60-, 70- oder 80-jährige Kund:innen heute stehen…

Am besten wäre, wenn es in Banking-Apps gar keine Extra-Einstellung für ältere Zielgruppen geben müsse, gibt Agnieszka Walorska zu verstehen. Ob Bilderkennung, Speech-to-text oder Künstliche Intelligenz: Die Technik sei doch da und von aufgeräumten Oberflächen würden am Ende alle Kundinnen und Kunden profitieren.

Ja, liebe Banken: Ein kluges, barrierefreies Backend, das die Bedürfnisse der Ältesten berücksichtigt, ließe sich mit anderer Oberfläche vielleicht gleichzeitig für die ersten Schritte der Jüngsten in die Finanzwelt nutzen. Und auch die Altersstufen dazwischen würden sich vermutlich nicht über weniger Komplexität im Design beschweren. Die Möglichkeiten sind da – jetzt gilt es, sie zu nutzen.

LONGEVITY- FINTECH WELTWEIT



In Deutschland gehört der Longevity-Markt zu den letzten weißen Flecken auf der Fintech-Landkarte. Global sieht das schon anders aus. Wir haben digitale Finanzangebote aus den USA, Großbritannien und Skandinavian gescoutet, die sich auf ganz unterschiedliche Arten mit älteren Menschen und dem Thema Ruhestand beschäftigen. Eine Infografik ohne Anspruch auf Vollständigkeit, aber mit viel Inspiration zum globalen Stöbern.
NEWS

VANTIK GIBT AUF


Das Berliner Anlage-Fintech hat den Geschäftsbetrieb eingestellt – und hinterlässt eine Marktlücke beim Thema Sparen fürs Alter. Das Berliner Anlage-Fintech hat den Geschäftsbetrieb eingestellt – und hinterlässt eine Marktlücke beim Thema Sparen fürs Alter.



Das 2017 von Til Klein und Lara Hämmerle gegründete Start-up bot ein mobiles Sparkonto für junge Erwachsene an, bei dem die gesparten Gelder über einen Fonds in ETF investiert wurden. Daneben versuchte Vantik es mit einer Debitkarte mit Cashback-Funktion, wobei ein Prozent Cashback wiederum in den ETF gesteckt wurde.

Das Geschäftsmodell des gescheiterten Start-ups basierte auf der Interchange-Fee, die von vielen Fintechs entweder zur Teilmonetarisierung eingesetzt wird – Stichwort kostenlose Konten bei Neo-Banken – oder zur Generierung zusätzlicher Vorteile für Kund:innen; Tomorrow pflanzt damit beispielsweise Bäume für seine Kundschaft. Zur Monetarisierung allein hat es für Vantik nicht gereicht.

Altersvorsorge ist wichtig. Sie ist das Mittel der Wahl, um Altersarmut zu verhindern – aus volkswirtschaftlicher Sicht genauso wie aus der ganz persönlichen Sicht eines jeden von uns. Vantik hat hier einen innovativen Weg eingeschlagen, doch der hat leider in eine Sackgasse geführt.

Was wir daraus lernen können: Zum einen hat die Kombination aus Bezahlen für Konsum und Sparen fürs Alter nicht geklappt. Konsum führt häufig zur Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin, also verbinden wir Konsum mit positiven Gefühlen. Bei Altersvorsorge gilt das Gegenteil. Das Thema ist vielen Menschen unangenehm, manchmal ist es auch angstbesetzt, im besten Fall neutral. Vantik hat einfach zu wenige Kund:innen gewinnen können.

Zum anderen wurde das Geld für die Altersvorsorge aus der Interchange-Fee der Kartenzahlung generiert. Das hat zwar den Vorteil, dass es die Liquidität der Sparer:innen gefühlt nicht belastet, wenn die Karte einfach im Alltag eingesetzt wird. Allerdings war das so angesparte Geld viel zu wenig für die Altersvorsorge. Sowohl für Angestellte, die ihre Rentenlücke schließen wollen, als auch für Selbstständige, die sich um ihre gesamte Altersvorsorge selbst kümmern. Das eigentliche Problem der Sparwilligen konnte Vantik so nicht lösen.

Vantik hat zwar gezeigt, wie es nicht geht. Doch die alte analoge Kombination aus Berater:in, Unterschrift, Einzugsermächtigung und jährlichem Brief mit Entwicklungsbericht kann auch nicht die Zukunft sein. So komfortabel diese Set-and-Forget-Lösung auch für beide Seiten ist, in den digitalen Finanzalltag passt sie immer weniger.

Hybride Lösungen sind hier gefragt. Und wenn man sich schon an die Arbeit macht, dann bitte das Entsparen, also das Auflösen von Erspartem, gleich mitdenken. Denn dafür gibt es auch noch gar keine digitalen Lösungen – eine weitere weiße Fläche auf der Landkarte, die es zu entdecken gilt.

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Cover des Digital-Magazins Goldilocks zum Thema Longevity zeigt Frau